Viele Halter lassen ihren Hund kastrieren, weil sie sich eine Verbesserung
von Verhaltensproblemen erhoffen. Doch leider ist noch wenig bekannt, dass die Problematik sich dadurch noch verschärfen kann. Der Verhaltensbiologe
Dr. Udo Gansloßer erläuterte in einem Fachvortrag das Für und Wider der Kastration.
Die Kastration ist der am häufigsten durchgeführte chirurgische Eingriff in deutschen Tierarztpraxen. Der
häufigste Grund dafür ist jedoch nicht in medizinischen Ursachen zu suchen, sondern, wie eine Befragung
von Hundehaltern im Rahmen der „Bielefelder Kastrationsstudie“ zeigte, in unerwünschtem Verhalten
(74 %). Auch Argumente wie das Zusammenleben von Rüde und Hündin in einem Haushalt (30 %) spielten eine
größere Rolle als medizinische Gründe. Diese waren nur für 21 % der Halter wichtig (Mehrfachnennungen
möglich).
Doch das gewünschte Ziel wird nur selten erreicht, wie neue Erkenntnisse der Verhaltensbiologie beweisen. „Wer
glaubt, durch Kastration Verhaltensprobleme einfach chirurgisch wegschneiden zu können, liegt falsch. Ganz
viele Leute müssen hinterher feststellen, dass sich nichts geändert hat oder das Problem sogar schlimmer
geworden ist“, erklärt Dr. Udo Gansloßer.
Der Grund dafür ist, dass viele Verhaltensweisen, die scheinbar mit der Fortpflanzung und der Pubertät
des Hundes in Zusammenhang stehen, in Wirklichkeit einen ganz anderen verhaltensbiologischen Hintergrund haben.
Das trifft zum Beispiel für unerwünschte Verhaltensweisen wie Revierverteidigung, Bellanfälle oder
Eifersucht zu. Auch bei Aufreit- und Paarungsverhalten, das nicht sexuell bedingt ist, sondern aus einem fehlgeleiteten
Besitzanspruch oder einer Bewegungsstereotopie zum Stressabbau resultiert, führt Kastration nicht zum Erfolg.
Eine oft genannte Begründung für die Kastration ist aggressives Verhalten. Aggression ist jedoch nicht
gleich Aggression. Bei der häufig vorkommenden Angstaggression kann das Verhalten sogar noch verstärkt
werden, weil die Sexualhormone im Gehirn eine positive Nebenwirkung auslösen und die Angst vermindern.
Um die weitreichenden Folgen der Kastration auf das Verhalten zu verstehen, ist es daher wichtig, ein paar Informationen über
die wichtigsten Hormone und ihre Wirkungsweisen zu haben.
So wirken Hormone
Hormone sind Botenstoffe, die über den Blutkreislauf verschickt werden. Das heißt, sie kommen überall
im Körper an. Damit sie trotzdem an einer bestimmten Stelle wirksam
werden, haben die meisten Hormone sogenannte Rezeptoren, Bindungsstellen, mit denen
sie sich verknüpfen und dadurch die erwünschten Wirkungen auslösen. An anderen
Stellen können sie jedoch zu Nebenwirkungen führen, die nicht geplant waren.
So ist eine Stressreaktion zum Beispiel biologisch sinnvoll, weil sie den Körper auf bestehende
oder zu erwartende Gefahren vorbereitet. Dauert der Stress aber zu lang, können sich die vom Körper
selbst produzierten Hormone negativ auswirken. Schuld daran ist ein kompliziertes Regelkreissystem im Hormonhaushalt.
Weil sie mit dem Blut verschickt werden, kommen die Hormone dort wieder an, wo sie losgeschickt wurden und dämpfen
dann ihre eigene Wirkung. Diese Rückkoppelungsschleifen
können sich so aufschaukeln, dass sie das System zum Absturz bringen und dem
Körper schaden.
Je nachdem, ob ein Hormon wasser- oder fettlöslich ist, beeinflusst das die Wirkungsweise.
Wasserlöslich ist zum Beispiel Adrenalin, eines der Haupthormone im Stressbereich. Das sogenannte Fluchthormon
wirkt ziemlich schnell, genauso schnell lässt die Wirkung aber nach,
wenn die Gefahr vorbei ist. Sexualhormone sind fettlöslich, ihre Wirkung tritt zeitlich verzögert
ein. Es dauert vier oder fünf Minuten, bis man die erste Wirkung erkennt, der Höhepunkt
liegt dann meist nach etwa 20 Minuten.
Eine große Rolle spielt neben der direkten Wirkung von Hormonen die sogenannte bahnende
Wirkung. Aufgrund hormoneller Einflüsse, die teilweise bereits im Mutterleib passieren, reicht später
der visuelle Reiz aus, um dieses Verhalten zu aktivieren. So wird durch die bahnende Wirkung von Testosteron
im Gehirn des Embryos unter anderem schon die Pinkelposition oder das Revierverhalten festgelegt.
Später ist dann eine Stange oder ein Baum der Auslöser für dieses Verhalten. Ein Hund, der generell
streunt, wird durch Kastration daher auch nicht plötzlich häuslich. Aufgrund solcher bahnenden Verbindungen
können Rüden auch Jahre nach der Kastration Paarungsverhalten bis hin zum Aufreiten zeigen, wenn ihnen
eine läufige Hündin begegnet. Denn dieser Bewegungsablauf wurde durch die Verknüpfung im Gehirn so
fixiert, dass es fast keine Testosteronproduktion mehr braucht, um ihn auszulösen. Es reichen die geringen
Mengen aus der Nebenniere.
Körperliche Folgen der Kastration
Kastration bedeutet beim Rüden und der Hündin die Entfernung der Geschlechtsorgane, also der Hoden beziehungsweise
der Eierstöcke. Da dies die wichtigsten Drüsen für die Produktion von Sexualhormonen sind, ändern
sich damit auch das Verhalten, der Stoffwechsel und andere Eigenschaften des Hundes. „Ist eine Kastration
aus medizinischen oder verhaltenstherapeutischen Gründen sinnvoll oder hat man den Hund kastriert übernommen,
muss daher eine informierte Nachsorge durch den Besitzer erfolgen“, erklärt Dr. Udo Gansloßer.
Maßnahmen
nach der Kastration
Durch die Kastration wird ein Hund schlagartig zum Senior. Die Bemuskelung der Knochen geht zurück, das Bindegewebe
wird schlaffer, das Fell verändert sich. Er braucht weniger Kohlenhydrate, weil sich der Stoffwechsel reduziert,
und hat einen erhöhten Bedarf an leicht verdaulichen biologisch hochwertigen Proteinen, um den Muskelaufbau
anzukurbeln. So wie der Mensch in den Wechseljahren etwas gegen Osteoporose tun muss, sollte man vor allem bei der
Hündin frühzeitig auf den erhöhten Mineralbedarf zur Vorbeugung achten. Ist der Hund stressanfällig,
verschärft die muskelabbauende Wirkung von Cortisol die Problematik noch.
Wichtig ist daher Muskelaufbau durch gezielte Physiotherapie wie Schwimmen, Unerwasserlaufband oder Wackelbrett
vor allem bei großen, schweren und erblich vorbelasteten Rassen sowie Individuen, die ohnehin Gelenkprobleme haben.
Auch Sportarten wie Zielobjekt- suche in schwierigem Gelände fördern den Muskelaufbau. Beim Verhaltenstraining
kommt es auf den Typ an. „Handelt es sich um einen Hund, der von Cortisol geprägt ist, muss vor allem
Persönlichkeitsaufbau betrieben werden. Solche Hunde müssen durch Teamarbeit über soziale Unterstützung
Selbstbewusstsein aufbauen. Dem hyperaktiven, eher adrenalingesteuerten Typ müssen hingegen sehr konsequent
Grenzen gesetzt und Sozialkompetenz aufgebaut werden. Denn nur durch die Kastration allein wird sich das Verhalten,
das er sich über Monate oder Jahre angewöhnt hat, nicht ändern. In dem Fall ist die Kastration zwar
eine hilfreiche Voraussetzung, aber keine Garantie für die Verhaltensänderung“, führt Dr. Gansloßer
aus.
Frühkastration und ihre Folgen
Besonders problematisch ist es, wenn die Kastration vor dem Höhepunkt der Pubertät durchgeführt wird. „Frühkastrationen
führen nach allen einschlägigen Erfahrungen zu chaotisch-unsicheren, meist lebenslang kindsköpfischen
Hunden, die auch in Bezug auf ihre geistige Leistungsfähigkeit nicht voll ausgereift sind. Das hat mit der Entwicklung
des Gehirns zu tun. Denn unter dem Einfluss des Sexualhormonanstiegs in der Pubertät werden nochmals Nervenverknüpfungen
und Zellverbindungen hergestellt und überflüssige Zellareale abgebaut“, erklärt der Experte.
Gerade bei großen Rassen birgt die Frühkastration ein weiteres Problem. Das Schließen der Wachstumsfugen
erfolgt in der Pubertät durch einen Sexualhormonschub. Entfällt dieser, schießen die Hunde in die
Höhe und entwickeln eine ungünstige Biomechanik. Verschärft wird das Problem noch durch ein
schwaches Bindegewebe und Muskulatur.
„Probelauf“ mit chemischer Kastration
Um ein genaues Bild davon zu bekommen, wie sich der Rüde nach der Kastration aus verhaltenstherapeutischer Sicht
entwickelt, empfiehlt Dr. Gansloßer vorher eine Art „Probelauf“ mit chemischer Kastration. Dabei
pflanzt der Tierarzt ein kleines Implantat unter die Haut, dessen Wirkstoff die Ausschüttung von Sexualhormonen über
mehrere Monate verhindert.
Allerdings ist die sogenannte GnRH-Down-Regulation bisher nur beim Rüden möglich. Obwohl sie bei Wildcaniden
schon lange problemlos eingesetzt wird, gibt es für Haushündinnen derzeit noch keine Zulassung.
Sie ist aber zu erwarten.
Da in den ersten Wochen nach der Implantation die Testosteronproduktion sehr stark angekurbelt wird, kann
der Rüde
in dieser Zeit etwas verrückt spielen und braucht daher einen souveränen Führer an seiner Seite. Danach
zeigt sich aber genau das Verhalten, das auchnach einer echten Kastration eintreten würde.
Amputationsverbot laut Gesetz
Nicht vergessen darf man auch, dass eine Kastration ohne veterinärmedizinische oder verhaltenstherapeutische
Indikation gegen das Tierschutzgesetz verstößt. Der Paragraph 6, das sogenannte Amputationsverbot,
verbietet, einem Tier Organe einfach wegzuschneiden.
Gemäß dem Tierschutzbericht der Bundesregierung von 1999 können in ordentlichen Familienverhältnissen
lebende Hunde auch mit anderen, weniger invasiven Methoden an der Fortpflanzung gehindert werden. Daher sind auch
Verträge (zum Beispiel Übernahmeverträge von Tierschutzvereinen), in denen die Kastration
gefordert wird, rechtswidrig und damit nichtig.
Weder Pro noch Contra
Die Entscheidung, ob man seinen Hund kastrieren lässt, sollte auf jeden Fall gründlich überdacht werden. „Es
gibt kein generelles Ja oder Nein, sondern nur ein ganz entschiedenes Vielleicht“, meint Dr. Udo Gansloßer.
„Meiner Erfahrung nach sollte sowohl aus tiermedizinischer als auch aus Trainersicht eine ganz differenzierte Einzelfallabschätzung
erfolgen, die den individuellen Hund und das individuelle Mensch-Hund-Team mit berücksichtigt, bevor
man etwas rausschneidet, was man dann nicht mehr einbauen kann.
“Saskia Brixner
Die wichtigsten Hormone und ihre Auswirkungen
Testosteron
Rüde: Testosteron ist das wichtigste Sexualhormon des Rüden. Es sorgt für männliches Aussehen
und bestimmt das männliche Sexualverhalten. Es wird vor allem in den Hoden produziert, in kleinen Mengen
auch in der Nebennierenrinde.
Daneben beeinflusst Testosteron den Knochen- und Muskelaufbau. In der Pubertät ist es verantwortlich für
die Schließung der Wachstumsfugen in den Röhrenknochen. Außerdem spielt Testosteron eine
wichtige Rolle bei der geruchlichen Kommunikation.
Hündin: In geringen Mengen entsteht Testosteron in den Eierstöcken und der Nebennierenrinde auch bei der
Hündin. Kommt es in größeren Mengen vor, wirken diese Hündinnen in Knochenbau und Bemuskelung
sehr männlich.
Östrogene
Rüde: In niedriger Konzentration vorhanden.Es ist jedoch unklar, ob sie im Hoden oder Fettgewebe gebildet
werden.
Häufige Vorurteile
Als häufiges Argument für die Pauschalkastration wird angeführt, dass es für Hunde ein permanenter
Stress ist, wenn sie sich nicht sexuell betätigen dürfen.
Wie Statistiken von verwilderten Straßenhunden zeigen, gibt es in der Regel in einem Rudel fünf bis sechs
Rüden und zwei bis drei Hündinnen, trotzdem sind meist nur ein Rüde und höchstens
ein bis zwei Hündinnen sexuell aktiv. Es ist daher ein völlig normales Geschehen, dass 70 bis 80 Prozent
der Rüden und gut zwei Drittel der Hündinnen nicht zur Fortpflanzung kommen. Ein medizinischer Grund, der
immer wieder für die Kastration ins Feld geführt wird, sind Statistiken, die von einem um 80 Prozent niedrigeren
Gesäugetumor-Risiko sprechen, wenn vor der ersten Läufigkeit kastriert wird. „Betrachtet man jedoch
Hündinnen aller Altersklassen, liegt das Risiko für solche Tumore unter zwei Prozent“, erklärt
Dr. Udo Gansloßer.
„Eindeutig belegt ist jedoch, dass es ganz andere Risikofaktoren gibt, die bei der Hündin wirklich den Gesäugetumor
auslösen, egal ob sie kastriert wurde oder nicht. Nämlich zu energie- und proteinreiches Futter oder Fettleibigkeit
im ersten Lebensjahr und das mehrfache Wegspritzen der Läufigkeit.“
Quelle: Deutscher Retriever Club, CZ 05/2011